Joël Dicker: Die Geschichte der Baltimores
Falls Sie, meine geschätzten FederLeserinnen und -Leser noch die passende Urlaubslektüre suchen, dann habe ich heute etwas für Sie. Urlaubslektüre soll ja ausreichend lang (Minimum 400 Seiten), spannend und strandtauglich, also leicht zu lesen sein. »Pageturner« nennt sich so ein Buch im Verlagsmarketing-Neudeutsch, weil halt »Umblattler« einfach nicht so elegant klingt. Und da habe ich mit Joël Dicker`s Roman »Die Geschichte der Baltimores« genau das Richtige.
Die Brüder Saul und Nathan Goldman, könnten unterschiedlicher nicht sein. Saul, der erfolgreiche Anwalt lebt mit seiner Frau, seinem Sohn Hillel und dem Ziehsohn Woody in Baltimore. Reichtum und Luxus prägen das Leben der Goldmans aus Baltimore – kurz: »die Baltimores«. Ganz anders die Familie seines Bruders Nathan, der mit seiner Frau und Sohn Marcus unter einfachen Mittelklasseverhältnissen in Montclair lebt. Dieser Teil der Familie wird kurz »die Montclairs« genannt.
Marcus, der Ich-Erzähler und mittlerweile erfolgreicher Autor erzählt die Geschichte der beiden Familien von ihren Kinder- und Jugendtagen an. Marcus, Hillel und Woody verbringen die Ferien und jede freie Minute gemeinsam und scheinen unzertrennliche Freunde zu sein. Hinzu kommt – später – Alexandra Neville, eine Tochter aus reichem Haus – noch wohlhabender als die Baltimores – und die drei Burschen verlieben sich auf unterschiedliche Art und Weise in dieses Mädchen. Doch, und das wird zu Beginn des Buches immer nur angedeutet, alles läuft auf eine Katastrophe der Baltimores hinaus.
Wie entwickeln sich die beiden Familien, wie leben sie, was trennt sie und was eint sie und was hat es mit dieser »Katastrophe« auf sich? Joël Dicker gelingt es hervorragend durch abwechselnde Rückblicke sowie Vorschauen auf die Zeit nach der Katastrophe Spannung aufzubauen und über 500 Seiten lang zu halten.
Selbstverständlich kann ich hier nicht berichten worin die Katastrophe der Baltimores besteht, eines jedoch kann ich verraten. Die Charaktere der drei Kinder und Jugendlichen, wie auch insgesamt der Montclairs und der Baltimores könnten unterschiedlicher nicht sein. Dies führt, ohne dass es je ausgesprochen wird zu wechselseitigem Neid: die vergleichsweise ärmeren Montclairs beneiden die reichen Baltimores und umgekehrt und die Baltimores wiederum beneiden noch mehr die Familie Neville, die Eltern Alexandras.
Als Kernaussage des Buches würde ich anführen wohin unausgesprochener Neid und Missgunst führen kann.
Die Bücher des jungen frankophonen Schweizer Autors Joël Dicker (Jahrgang 1985) handeln alle in den USA, meist in und um New York, besonders auch in den Hamptons. Als weitere spannende Urlaubslektüre (aber natürlich auch sonst!) kann ich neben seinem Erstlingsroman »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert« auch «Das Verschwinden der Stephanie Mailer« erwähnen. Die beiden Letztgenannten würde ich jedoch als Krimis einstufen, im Gegensatz dazu »Die Geschichte der Baltimores« als – wie sagt man halbwegs richtig? – Familiendrama, obwohl das dieser Bezeichnung zugrunde liegende Pathos, dem Roman nicht gerecht wird.
2021 07 24/Fritz Herzog