Von der Fotografie und der Fotomanie
Eine Frage: Wie viele Fotos haben Sie, meine geschätzten FederLeserinnen und -Leser auf Ihrem Smartphone gespeichert? Wissen Sie es genau? Zirka? Ungefähr? Keine Ahnung? Finden Sie das Bild immer sofort, nach dem Sie suchen? Gewinnt im ewigen Kampf Ordnung gegen Chaos regelmäßig das Chaos? Zugegeben, mir geht’s genauso.
Fotografiert wird jedenfalls auf Teufel komm‘ raus, dass man meinen könnte Linse und Speicherplatz am Handy glühten. Und damit nicht genug, wird der ganze Schmarren dann noch lustvoll auf den diversen »Soschiälmädia«-Foren dem Rest der Menschheit zugemutet, wo für jedes hatscherte Bild nach Likes geheischt wird.
Ein Marktforschungsinstitut aus Boston hat erhoben, dass heuer weltweit etwa 1,5 Billionen Fotos geschossen werden, zu Deutsch entspricht das der Zahl 15 und hintennach noch elf Nullen oder einskommafünf Millionen-Millionen Fotos. Und, geschätzt, sind davon 90% von Smartphones.
Egal ob Essen in allen möglichen Aggregatzuständen, Sonnenuntergänge an x-beliebigen Meeresstränden, die sich nur marginal in ihren unterschiedlichen Rottönen unterscheiden, Selfies, an denen man nur bei jedem weiteren die jeweils steigenden Promillezustände der Party erkennen kann oder Babyfotos, die nach der zig-sten Wiederholung auch nicht mehr in die Kategorie »herzig« einzuordnen sind. Von den Katzenfotos rede ich da noch gar nicht. Nichts ist bedeutungslos genug um nicht festgehalten zu werden und um danach in den unendlichen Weiten einer Speicherkarte zu versickern.
Festgehalten? Für wen? Für wann? Und wenn für die Nachwelt, wen interessiert in zwanzig Jahren mein Urlaub im Lande Irgendwo und eine Party bei Familie Irgendwem? Stellen sich diese Fragen überhaupt?
Was waren das noch für Zeiten – ich weiß, der FederLesen-Autor wird im Alter gelegentlich sentimental – als man mit Mühe einen 135mm-Film in die Kamera eingelegt hat. Da stellte sich höchstens die Frage Kodak oder Fuji – erinnert sich noch wer an die zwei? Das war damals fast so eine Glaubensfrage wie Rapid oder Austria oder Beatles oder Rolling Stones. Bei jedem Abdrücken hat man überlegt, ob das Motiv das »Klick« tatsächlich wert ist. Danach kam die Spannung, ob nach dem Entwickeln die Fotos auch was G’scheits geworden sind. Zuletzt wurden sie fein säuberlich in ein Album für die Ewigkeit geklebt. Ich hör‘ eh schon auf mit der Sentimentalität, zurück zum fotografischen Wildwuchs.
Es gibt nämlich am heutigen Tag auch eine gute Nachricht. Die in den USA lebende Französin Isabelle Dervaux nennt sich Foto-Kuratorin und hilft Menschen beim Zusammenräumen ihrer elektronischen Fotoalben am Handy. Für nicht gerade wohlfeile 125 Dollar in der Stunde räumt sie dort für Sie zusammen. Ich weiß schon, eine Reinigungskraft kostet weniger, aber die arme Miss Dervaux muss, so berichtet sie zumindest, auch einiges an Anblicken ertragen und erfährt auf diese Weise oft auch Dinge, die sie oder er eher nicht der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. So berichtet sie von abfotografierten Steuerakten ebenso wie von für einen Dermatologen bestimmten Bilder von Hautausschlägen bis hin zu intimen Fotos, wahrscheinlich oft genug auch außerehelicher Natur. So gesehen sind die 125 Dollar vermutlich auch als eine Art Schweigegeld zu verstehen.
Vertraut man ihr trotzdem nicht, bietet sie auch einen mehrtägigen Kurs »wie räume ich meine elektronischen Fotoalben auf« an – so ähnlich dürfte der Kurs heißen. Doch auch dieser ist nicht gerade ein Schnäppchen: Knapp dreitausend Dollar muss man dafür berappen. Einen kleinen Tipp gibt es jedoch gratis: Ihrer Erfahrung nach gehören 90% aller Fotos in den Papierkorb. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Fotolöschungspfingstwochenende.
2022 06 04/Fritz Herzog