Wagristoratore
Als der Film »Fitzcarraldo« des deutschen Regisseurs Werner Herzog (weder verwandt noch verschwägert noch versonstirgendwas mit Ihrem FederLesen-Autor) Anfang der 80er Jahre in die Kinos kam, war wieder einmal marketinggerecht ein cineastischer Skandal perfekt. Bei dem Skandal ging es weniger um den Film, sondern vielmehr um den Streit während der Dreharbeiten zwischen dem Regisseur und dem – gelinde ausgedrückt – ziemlich exzentrischen Hauptdarsteller Klaus Kinsky.
Der Inhalt des Films ist kurz erklärt. Um ein Opernhaus in den Anden errichten zu können, will ein verrückter Opernliebhaber ein Schiff in die Berge zu einem Fluss bringen um damit Kautschuk, den er für den Bau benötigt, transportieren zu können. Es geht also kurz gesagt darum, dass ein Schiff über einen Berg geschleppt wird.
Die Idee irgendwelche Trümmer in die Berge zu schleppen, war in dem Film nur insofern neu, als es sich dabei um ein Schiff gehandelt hat. Fast sechzig Jahre früher hatte bereits der italienische Architekt und Karikaturist Piero Portaluppi die absurd klingende Idee zwei Eisenbahnwaggons auf einen Alpenpass schleppen zu lassen.

Genauer gesagt auf den San-Giacomo-Pass an der Grenze zwischen Italien und der Schweiz. Er stellte dort oben, knapp vor der Schweizer Grenze, auf 2.300 Meter Seehöhe die beiden Waggons, einen Speise- und ein Schlafwagen, auf Betonsäulen einfach so in die Landschaft. Da es auf italienischer Seite bereits eine Straße gab, sollten vornehme Gäste aus Mailand in dem Speisewagen fein essen und dabei das Panorama der umliegenden Berge genießen können. Und, wenn sie zu viel des Chiantis oder Valpolicellas konsumiert hatten, konnten sie im Schlafwagen auch übernachten.
So weit kann man die Geschichte noch als skurrile Spinnerei eines erfolgsverwöhnten Stararchitekten abtun, von dem immerhin zahlreiche Bauwerke in und um Mailand aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts stammen. Die Schweizer, in Sichtweite jenseits der Grenze, fanden das Objekt hingegen in keiner Weise lustig. Im Gegenteil!
Der faschistische Diktator Mussolini träumte damals von einem vereinten Italien, zu dem für ihn auch der Tessin, der italienischsprachige Teil der Schweiz, gehören sollte. Nicht genug, dass es auf der italienischen Seite des San-Giacomo-Passes bereits eine befestigte Straße gab, wer Eisenbahnwaggons dort hinauf schleppen kann, der kann es fitzcerraldogleich auch mit Panzern und anderem schweren Kriegsgerät. Auf der Schweizer Seite wäre es dann nicht mehr weit bis zum Sankt Gotthard und in weiterer Folge bis in die Zentralschweiz.
Nicht ganz zu Unrecht machte das die Eidgenossen in dieser ohnehin politisch aufgeheizten Zeit nervös und sie begannen ihrerseits mit der militärischen Befestigung des Passes.
Gottseidank kam es nie dazu. Mussolini hatte in weiterer Folge andere Probleme und wie der Typ geendet hat steht ohnehin in den Geschichtsbüchern.
Achja und bevor ich es vergesse: Piero Portaluppi nannte das Objekt mit den beiden Waggons auf den Betonsäulen dort oben am San-Giacomo-Pass »Wagristoratore«, von dem ich leider nicht weiß, was es heißt; »Storatore« ist ein Speicher oder Lager, aber wofür das »wagri« steht? Keine Ahnung! Vielleicht können mir ja meine italophilen FederLeserinnen und -Leser weiterhelfen.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde »Wagristoratore« zerstört. Einmal heißt es von Partisanen, ein andermal von der italienischen Armee um den Partisanen auf ihrer Flucht in die Schweiz keinen Unterschlupf zu gewähren. Heute stehen nur mehr die Betonsäulen einsam dort oben am Pass und erinnern an die skurrile, aber auch kriegsbedingt traurige Geschichte des »Wagristoratore«.
2021 08 16/Fritz Herzog