Tizzonara auf Alicudi
Ehe sich Ihr FederLesen-Autor für einige Zeit verabschiedet, dem nasskühlen Frühherbst gemeinsam mit seiner Liebsten entflieht und gen Süden ins Land des Dolce Vita, der Paste und des Gelati verreist, möchte ich meinen geschätzten FederLeserinnen und -Lesern noch eine kleine italienische Geschichte hinterlassen. Die Anregung dazu verdanke ich dem Vice-Magazin.
Alicudi, das sei kurz erklärt, ist die westlichste der Liparischen Inseln im Tyrrhenischen Meer nördlich von Sizilien. Auf dem vulkanischen Felsen von etwas mehr als fünf Quadratkilometer Größe leben nicht einmal hundert Menschen. Die Insel gilt als unwirtlich und die wenigen Einwohner leben von Fischfang und dem was die Ziegen, die die kargen Felsen abgrasen so hergeben. Und ein wenig Roggen für das Brot wird auf der Insel angebaut. Erst neuerdings gibt es ein wenig Fremdenverkehr. Aber alles höchst bescheiden.
Schon Alexander Dumas schrieb Anfang des 19.Jahrhunderts als er die Insel besuchte an seine Frau »Es ist schwer, einen traurigeren, düstereren und trostloseren Ort zu finden als diese unglückliche Insel, eine von der Schöpfung vergessene Ecke der Erde«. Daran dürfte sich auch in den zweihundert Jahren seither nicht allzu viel verändert haben.
Nicht einmal die Cosa Nostra aus dem etwa etwa hundert Kilometer entfernten Palermo interessierte sich für dieses einsame Eiland. Vielleicht zum Versenken von ein paar in ihren Augen unliebsamen Zeitgenossen in Betonpatschen vor der Küste Alicudis. Mehr sicher nicht.
Und doch hat sich zwischen 1903 und 1905 auf der Insel Sonderbares zugetragen. Etwa um diese Zeit begannen die Inselbewohner zu halluzinieren. Sie sahen Gespenster, Frauen vermeinten Flügel zu bekommen und nach Palermo zum Shoppen, das man damals noch Einkaufen nannte, fliegen zu können. Hexen feierten am Strand ein Mulatschag, weiche Steine seien vom Himmel gefallen und derlei Ähnliches mehr geschah vermeintlich in jenen Tagen.
Da es für alles Außergewöhnliche auch einen außerirdischen Grund geben muss, fanden die Inselbewohner bald eine Erklärung für ihre Halluzinationen. Am Gipfel der Insel, der nur über 820 Stufen erreicht werden kann, stand einst eine Statue des Hl.Bartholomäus. Da den Inselbewohnern der Aufstieg zum heiligen Bartel zu mühsam wurde, brachten sie die Statue hinunter ins Dorf. Das, so die Mär, hat dem Heiligen vom Berg so missfallen, dass er die Bewohner mit diesen Halluzinationen bestraft hat.
Glaubt man hingegen nicht an den zürnenden Bartholomäus und andere himmlische Strafen wird man nach plausibleren Ursachen für die Vorkommnisse suchen. Diese lagen im Roggen! In ihrer Armut vermahlten die Bewohner den Roggen mitsamt den von giftigem Mutterkorn befallenen Ähren. Das wussten sie auch, bezeichneten sie doch das schwarze Mutterkorn als »Tizzonara«, was so viel wie Asche bedeutet. Es war ihnen egal und so aßen alle Inselbewohner das Roggenbrot mit Mutterkorn.
Der Pilz Mutterkorn enthält den Giftstoff Lysergsäure aus dem auch LSD gewonnen wird. Und so waren ein paar Jahre lang die Bewohner dieser kleinen fernen Insel mehr oder minder durchgehend auf einem LSD-Trip. Ob sie das als schön, als schirch, als grauslich, beängstigend und bedrückend oder gar als einen wunderbaren transzendenten Höhenflug erlebt haben, ist nicht überliefert.
Abschließend kann ich Sie, meine geschätzten FederLeserinnen und -Leser beruhigen, ich fahre zwar jetzt bald nach Italien, aber nicht nach Alicudi und von LSD und ähnlichem Zeug halte ich mich ohnehin fern. Ein gutes Glas Pinot Grigio oder Malvasia ist mir ohnehin lieber.
2021 09 01/Fritz Herzog